Es war ein kein einfaches Jahr an der Börse. Der S&P 500 verlor ca. 20%, welches die schlechteste Jahresperformance seit der letzten Finanzkrise 2008/9 markiert. Wenn man die Nachrichten des Jahres zusammenfasst: Krieg in Europa, Erhöhung der Leitzinsen durch die für uns entscheidenden Zentralbanken, inkl. der Bank of Japan, als auch eine mögliche Rezession kann man durchaus Angst, um sein Depot bekommen. Insbesondere, wenn nicht nur die bekannten Untergangs-/Crashpropheten, sondern zunehmend auch konservativere Marktbeobachter, von einer Zeitenwende an der Börsen (engl. pivot) reden.

Ein von vielen beachteter Sentimentindikator ist der VIX. Bei schlechter Stimmung am Aktienmarkt und Angst in Bezug auf die zukünftige Entwicklung der Weltwirtschaft müsste man davon ausgehen, dass der VIX deutlich erhöht ist. Entgegen dieser Annahme notiert der VIX am Anfang des Jahres 2023 nur wenige Prozentpunkte höher als zu Beginn des vergangenen Jahres, nämlich um ca. 21,5%. Statistisch betrachtet bewegt sich der VIX damit nur leicht oberhalb seines langfristigen Durchschnitts (ca.19,5%) und nicht einmal im oberen Quartil (ab ca. 23,1%) seiner historischen Werte. In diesem Artikel habe ich die historische Verteilung des VIX statistisch und graphisch detaillierter aufbereitet.

Anleger, wie ich es einer bin, die ihre Handelsentscheidungen größtenteils auf Grundlage der Volatilität treffen, fragen sich zum Jahreswechsel, weshalb die Volatilität und der VIX sich im Jahr 2022 ungewöhnlich verhalten haben? Warum regierte der VIX nicht auf fallende Aktienpreise mit der gewohnten Vehemenz?

Meiner Meinung nach gibt es hierfür drei Erklärungsansätze:

1. Unterschiedliche Bewertung der Tatsachen

2. Erwartbarkeit der Entwicklungen

3. VIX als Spiegel kurzfristiger Angst

Doch bevor wir uns mit den möglichen Gründen befassen, möchte ich kurz das Jahr 2022 aus Sicht der Volatilität betrachten.

I. Bestandsaufnahme

Wie bereits angesprochen verhielt sich die Volatilität, im Besonderen der VIX, auf den ersten Blick ungewöhnlich ruhig und verweilte, angesichts der enormen Umwälzungen, auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Auf Schlusskursbasis erreichte der VIX im Jahr 2022 keinen höheren Wert als am 7. März von ca. 36%. Im Wesentlichen schwankte der VIX zwischen 20% und 30%, welches historisch betrachtet erhöht aber nicht außergewöhnlich ist. In diesem Artikel bin ich näher auf die historische Verteilung des VIX eingegangen.

Der Anlass weshalb viele das Verhalten des VIX als außergewöhnlich wahrnehmen ist das Ausbleiben von Volatilitätsspitzen oberhalb der 40% und die unterdrückte Reaktion des VIX auf signifikante Abverkäufen an den Aktienmärkten. Es gab im Jahr 2022 gehäuft Phasen in denen der S&P 500 über mehrere Tage mehr als 10% verlor und der VIX oftmals nur um das Fünffache, also ca. 50% von 20 auf 30, anstieg. Beispielsweise verlor der S&P 500 von Mitte August bis Mitte Oktober in der Spitze ca. 19%, während der VIX nur um ca. 80% zulegte.

Für manche mag ein Anstieg des VIX um 80% viel erscheinen. Jedoch ist es bereits mehrmals vorgekommen, dass der VIX innerhalb nur eines Tages um mehr als 80% angestiegen ist. So z.B. am 05.02.2018 an dem der VIX 118% zulegte oder im Februar 2020 als der VIX innerhalb von einem Monat um ca. 475% in die Höhe schoss. Die Tatsache, dass der VIX für eine Bewegung, welcher er schon oft innerhalb weniger Stunden bis Tage vollzogen hat, nun zwei Monate benötigt, zwingt uns näher hinzuschauen.

Bemerkenswert ist nicht nur das allgemeine Verhalten der Volatilität, sondern die Diskrepanz zwischen der allgemeinen Wahrnehmung zunehmender Risiken und der vermeintlich fehlenden Repräsentation ihrer in der impliziten Volatilität.

II. Mögliche Gründe

Meiner Meinung nach gibt es drei Gründe weshalb der VIX, stellvertretend für die Volatilität, so zurückhaltend auf die Geschehnisse im Jahr 2022 reagiert hat.

1. Unterschiedliche Bewertung der Tatsachen

Zum einen könnte die subjektive Wahrnehmung der Ereignisse in ihrer Reichweite und Gewichtung stark von der tatsächlichen, objektiven ökonomischen Tragweite abweichen.

a) Krieg in Europa

Der Krieg in der Ukraine wurde von uns Europäern als Zäsur wahrgenommen. Die kriegerische Auseinandersetzung und alle damit verbundenen wirtschaftlichen Entwicklungen wie die Teuerung der Energiekosten, das teilweise Wegbrechen zweier Absatzmärkte (Ukraine, Russland) und die Verhängung von weiteren Sanktionen haben den Aktienmarkt nicht in Angst versetzt.

Deutlich wird dies, wenn man sich den VIX für den S&P 500 und den VDAX-new für den DAX im Februar des vergangenen Jahres anschaut:

Beide Volatilitätsindices waren zum Zeitpunkt der russischen Invasion (24.02.2022) zwischen 30-35 Punkten, welches ein erhöhtes Niveau ist, jedoch spiegelt es nicht die, jedenfalls von mir, wahrgenommene Bedeutung wieder.

Des Weiteren würde einem Beobachter ohne das Wissen um den Krieg in der Ukraine nicht auffallen, dass sich am 22.Februar 2022 etwas außergewöhnliches abgespielt hat, jedenfalls dann wenn er nur die Volatilität am Aktienmarkt betrachtet. Weder sind die Kurse außer der Reihe eingebrochen, noch war die implizite Volatilität bemerkenswert.

b) Die Natur der Angst

Der VIX wird nicht ohne Grund Angstindex (fear gauge) genannt. Zur Natur der menschlichen Angst gehören zwei wesentliche Merkmale.

Zum einen dauert der Zustand der Angst nie lange an. Wovor man eben noch Angst hatte stellt sich bei genauerer Betrachtung oder mit dem Fluss der Zeit als weniger bedrohlich als angenommen heraus. Bei Corona war es sehr gut erkennbar, dass von einem Moment der Panik, der sich hauptsächlich aus Ungewissheit speiste, es sehr bald wieder zurück zur rationalen Erfassung der Risiken gekommen ist und die Angst vor dem Unbekannten der Gewissheit über Gefährlichkeit und den Rahmen der staatlichen Maßnahmen wich.

Zum zweiten neigen wir dazu Ereignisse relativ zu betrachten. Wer beim Sprung vom 3-m-Brett im Schwimmbad beim ersten mal Angst hatte, sich dann aber überwindet hat beim Sprung vom 1-m-Brett keine Angst mehr. Ähnlich kann man die Corona-Krise mit dem Aufflammen eines Krieges in Europa vergleichen. Eine weltweite Pandemie und die globalen, staatlichen Maßnahmen suchen ihres Gleichen, während dieser Krieg, mag er auch auf europäischen Gebiet stattfinden, nur lokal auf das Randgebiet des Kontinents begrenzt ist.

2. Erwartbarkeit der Entwicklungen

Wie ich mir vorherigen Abschnitt über die Natur der Angst angedeutet habe ist die Ungewissheit beziehungsweise die Unvorhersehbarkeit plötzlicher Veränderungen der Quell hoher Volatilität an den Börsen.

Sowohl der Beginn des Krieges als auch die Erhöhung der Zinsen durch die Zentralbanken war relativ gesehen absehbar.

Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 durch Russland bestand durchweg die reale Möglichkeit weiterer Expansionsversuche. Das Russland für dieses Vorhaben nur die Zeit zwischen 2020 und 2030 aufgrund ihrer Demographie bleiben würde, war allgemein bekannt.

Das Inflation in zuallererst ein monetäres Phänomen sei, proklamierte Milton Friedman schon in den 1960er Jahren. Das zu schnelle Ausweiten der Geldmenge führe stets zu Inflation, welche dann u.a. durch die Erhöhung der Leitzinsen durch die Zentralbanken wieder zu bekämpfen sei. Im Zuge der Corona-Krise im Jahr 2020 wurde nicht nur die Zinsen auf nahe Null gesenkt, sondern zusätzliches „echtes Helikoptergeld“ an die US-Bürger ausgegeben. Die Inflation zeichnete sich gegen Mitte des Jahres 2021 ab und zwang dann die Notenbanken zum handeln.

Die beiden prägenden Entwicklungen des Jahres 2022, der Krieg als auch die Erhöhung der Zinsen, war somit relativ erwartbar bzw. nicht unvorhersehbar oder gar überraschend. Wenn man sich den VIX, als Barometer der Unsicherheit, anschaut sieht man recht deutlich ein erhöhtes Niveau im Jahr 2022 zwischen 20 und 30, welches angesichts der Ereignisse als solche überraschend scheint, jedoch im Angesicht der Möglichkeiten angemessen ist.

3. VIX als Spiegel kurzfristiger Angst

Nun zum letzten und in meinen Augen wichtigsten Punkt: Der VIX ist der Spiegel kurzfristiger Erwartungen fallender Kurse. Wie wir alle wissen wird der VIX auf der Grundlage von SPX Optionen berechnet, die eine durchschnittliche Restlaufzeit von 30 Tagen haben.

Als kapitalstarker Investor nutzt man gemeinhin nur dann Optionen zur Absicherung, wenn man davon ausgeht, dass die Entwicklung an den Börsen relativ kurzfristig sich vollziehen wird. Ansonsten kann man die Aktien direkt verkaufen.

Geht man also davon aus, dass Aktien langfristig niedriger notieren werden als sie es im Augenblick tun, würde man diese nicht mit Optionen mit einer durchschnittlichen Laufzeit von 30 Tagen absichern, sondern diese direkt veräußern.

Viele institutionelle Anleger und einige private Investoren bewehrten Aktien fundamental mit Hilfe eines Discounted Cash-Flow Modells (DCF). Das DCF-Modell basiert auf der Idee, dass der Wert eines Unternehmens dadurch bestimmt wird, wie gut das Unternehmen in der Zukunft Cashflows für seine Investoren generieren kann. Diese Cashflows werden mit eine Zinssatz diskontiert. Erwartet man nun steigende Zinsen über die nächste Zeit, steigt der Diskontierungszins der Cashflows womit der aktuell faire Wert der Beteiligungen fällt. Kurz gesagt: Der faire Wert von Aktien fällt im hier und jetzt durch steigende Zinsen.

Das hier beschrieben Szenario würde zu fallenden Preisen, insbesondere einen breiten Abverkauf, führen, welchen wir im Jahr 2022 gesehen haben, und gleichzeitig einen Erklärungsversuch darstellten, weshalb die Volatilität so unbeeindruckt von den teils deutlich fallenden Kursen war.

III. Fazit

Zum einen kann man für das kommende Jahr 2023 aus dem Verhalten des VIX im Jahr 2022 schließen, dass bei gleich bleibenden Umständen (Krieg in der Ukraine, Inflation und hohe Zinsen) der VIX weiterhin gedämpft auf Kursrückgänge im S&P 500 reagieren wird.

Des Weiteren verdeutlicht das Verhalten des VIX im Jahr 2022, dass der VIX eher als Index der Ungewissheit als der Angstindex bezeichnet werden sollte. Nicht die wirtschaftliche Tragweite der Ereignisse sind für das Absicherungsverhalten entscheidend, sondern die Unvorhersehbarkeit und die Geschwindigkeit mit welcher sich Veränderungen entwickeln könnten.

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